Donnerstag, 3. Mai 2012
Demos, Generalstreik und was sonst noch wichtig ist
Gestern war der 1. Mai. „Tag der Arbeit“, „Maifeiertag“ oder „Kampftag der Arbeiterbewegung“, je nachdem in welchem Bundesland man gerade lebt, steht im Kalender dafür ein anderer Beiname. Traditionell ist es der Tag, an dem die Menschen in ganz Deutschland auf die Straße gehen um für die Rechte der Arbeiter zu kämpfen, so wie es bereits vor fast 150 Jahren in Australien und vor fast 120 Jahren in Nordamerika getan wurde. Auch damals ging es um mehr Geld und bessere Arbeitsbedingungen: Damals um nur acht, statt zwölf Stunden Arbeit am Tag und ein Gehalt, das für mehr als nur ein mageres Essen am Tag reichen könnte.

Heutzutage kann eine solche Maidemonstration genauso einen kleinen, gemütlichen Spaziergang im Schutze pensionierter Gewerkschaftsmitglieder – und folglich in gediegener Geschwindigkeit mit begrenzter Länge des Ausflugs –bedeuten, wie kilometerlange Märsche mit anschließenden, ebenfalls traditionell gewalttätigen Ausschreitungen zwischen Demonstranten und Polizisten. Berlin Kreuzberg ist dafür eine berühmte Adresse, Steineschmeißen die noch berühmtere Form des Ausdrucks von Zorn und Verzweiflung. Aber stimmt das eigentlich?

Natürlich gibt es auch in Deutschland genug zu Murren und zu Meckern. Wer jedoch einmal die Nase raus und in andere Länder gesteckt hat, wird schnell merken, dass Beschwerden über unser soziales Sicherungssystem und die schwierige Arbeitslage Außenstehende schnell an einen bereits gängig gewordenen Spruch erinnern dürften: „Jammern auf hohem Niveau“. Natürlich ist es schwierig, sich mit dem dürftigen Hartz IV-Satz ein angenehmes Leben zu gestalten. Schwieriger ist es jedoch für die zahllosen Arbeitslosen in den Südländern, die nach Zahlungsende des Arbeitslosengeldes schlichtweg gar nichts mehr bekommen. Da zieht dann mal schnell eine dreiköpfige Familie zurück in die Wohnung der Eltern. Oder man sucht sich ein nettes, leerstehendes Haus und macht es sich dort so gut es geht gemütlich. Not macht erfinderisch, aber sie bringt auch Verzweiflung mit sich und damit auch immer Wut und Aggression.

Die Maidemonstrationen hier in Spanien gingen trotzdem friedlich zu. Etwa eine Million Menschen marschierten in zahlreichen Städten von der Sonne in den Regen, fast 100.000 davon allein in Madrid. Beim Generalstreik vom 19. März 2012 dagegen waren laut Gewerkschaftsangaben fast 10 Millionen Demonstranten in ganz Spanien auf den Straßen. Diesen Streik konnte man tatsächlich weder überhören, noch übersehen. Bereits am späten Vorabend waren vereinzelte Gruppen durch die Straßen gezogen. Der Busverkehr wurde gestoppt, die Bahn stand still, Läden wurden geschlossen. Wer seinen Laden nicht schließen wollte, wurde dazu veranlasst, sei es durch Drohungen oder mehr – aber das sind Gerüchte.

Fakt ist, dass am 19. März nichts fuhr, dass der Müll nicht abgeholt wurde, dass die Straßen nicht gereinigt wurden, dass sämtliche Läden geschlossen waren. Viele Menschen, die in dem Streik keinen Sinn sahen und zur Arbeit gehen wollten, bekamen keine Möglichkeit dazu – entweder sie kamen dank Autobahnsperrungen und schwerster Störungen im öffentlichen Nahverkehr erst gar nicht hin, oder standen dann vor verschlossenen Türen. Selbst bei den großen Supermarktketten blieben die Tore zu, zumindest, bis am Nachmittag die Demonstrationen beendet waren. Die Gewerkschaften setzten alles daran, Einigkeit zu zeigen, koste es, was es wolle. Aber immerhin: Den Grund für den Streik kann man durchaus nachvollziehen. Nicht nur, dass die Arbeitslosenzahl hier in Spanien derzeit auf fast 25 Prozent geschätzt wird – in Asturien liegt die mittlere Arbeitslosenquote bei etwa 30, bei den jungen Mitbürgern bei 50 Prozent –, auch die Sanktionen, die dem Land im Rahmen der allgemeinen Sparmaßnahmen auferlegt wurden, versprechen nicht gerade eine Besserung der Situation.

Die Reformen, gegen welche mit verschiedensten Parolen gewettert wurden, beinhalten zwar auch einige gute Seiten, etwa bessere Möglichkeiten zur Weiterbildung und leichtere Einstiegsmöglichkeiten in den Beruf, vor allem aber setzen die neuen Beschäftigungsrichtlinien die Menschen hier in Angst und Schrecken. Arbeitgeber können ihre Arbeitnehmer nun sehr viel leichter entlassen, im Notfall auch aus Krankheitsgründen. Die Idee, die dahinter steckt, ist vermutlich, dass Firmen eher Leute einstellen, wenn sie wissen, dass sie sie ohne Probleme wieder loswerden können. 10 Millionen Spanier allerdings kennen die Arbeitgeber besser, als ihre politischen Oberhäupter es tun, und glauben zu wissen, dass so nur noch mehr Menschen buchstäblich auf der Straße landen werden. Ein weiterer, cleverer Einfall der Regierung ist es, Minijobs zu fördern. Das haben sie sich angeblich aus Deutschland abgeguckt, wo es ja auch super funktioniert. Zumindest dann, wenn man den Statistiken traut und die Realität darüber völlig außer acht lässt. In einem Land zumindest, in dem eine 40-Quadratmeter-Wohnung 500 Euro Kaltmiete im Monat kostet, sehe ich nicht, wie man mit einem 400-Euro-Job sein Leben finanzieren soll. Aber offenbar hätten die Spanier auch gerne so schöne Statistiken wie wir, wo die Arbeitslosenquote inzwischen unter die 4-Prozent-Marke gesunken sein soll. Da kommen Mini- und Mikro-Jobs nur gelegen.

Das schlimmste an der Sache ist allerdings, dass die Medien schon längst begonnen haben, gegen dieses vermeintliche deutsche Vorbild zu hetzen. Man sieht hier kaum mehr die spanische Regierung als Ursprung der Krise im Land, sondern lenkt die Aufmerksamkeit auf die böse Frau Merkel, die ohne Rücksicht auf die spanische Bevölkerung auf der Durchsetzung der zuvor festgelegten Sparmaßnahmen besteht. Dass einige Fehlinvestitionen, falsche Entscheidung und schlichtweg Betrugsfälle innerhalb der spanischen Regierung auch einiges mit der derzeitigen finanziellen Krise zu tun haben könnte, ist seltener Thema in den Medien und beim täglichen Klatsch und Tratsch. Das wäre auch ein alter Hut. Korruption und Unterschlagung durch Politiker ist hier schließlich bereits in Form von lustigen Comics in die Literatur der Humoristikabteilung eingegangen. Da bleibt doch nur noch zu sagen, nehmen wir es mit Humor! Immerhin waren die Bars und Kneipen am Abend des Generalstreiks auch schon wieder geöffnet und gut gefüllt. Man muss sich ja bei einem Wein und einer Sidra vom anstrengenden Marsch erholen...



Donnerstag, 29. März 2012
Guten Tag, ich bin der Schlüsseldienst!
In einem Moment denkt man, man geht zu einem gemütlichen Zusammentreffen mit Deutschen und Spaniern und im nächsten sitzt man schon am Café-Tisch und hat einen orangenen Post-It an der Stirn zu kleben. Aber immerhin durfte ich mir die Farbe des Zettelchens selbst aussuchen.

Die ganze Sache begann schon vor ein paar Wochen. Auf der Suche nach neuen Kontakten filzte ich das Internet und die mir bekannten sozialen Netzwerke und wurde fündig. Nicht etwa in spanischen oder internationalen Portalen, sondern im StudiVZ (ja, das gibt’s auch noch!). Während tuenti und facebook die Suche nach Interessengruppen nämlich ziemlich schwierig gestalten, ist das bei Studi ganz einfach. Prompt war ich auf der ERASMUS-in-Oviedo-Seite gelandet und hatte nicht nur Datum und den Ort für den wöchentlichen deutsch-spanischen Stammtisch ausgemacht, sondern auch noch meine Tandempartnerin kennengelernt.
Das heißt jetzt nicht, dass wir uns zu zweit auf ein Rad schwingen und selig durch die Gebirge fahren würden, das heißt, dass wir uns wöchentlich treffen und jeweils eine Stunde lang auf Deutsch und eine Stunde lang auf Spanisch über die wildesten Themen philosophieren.

Beim Stammtisch läuft das ähnlich, nur das er eine etwas hierarchischere Struktur hat. Es gibt einen spanischen Gruppenleiter – der seine Pflichten gerne an die deutsche Fremdsprachenassistentin abgibt –, ein paar deutsche, österreichische und schweitzer ERASMUS-Studentinnen, ein paar Spanier, die früher einmal in Deutschland waren und ihre Sprachkenntnisse nicht verlieren, sowie einige, die mal nach Deutschland gehen und ihre Sprachkenntnisse erweitern wollen. Und dieser ganze Mischmasch sitzt dann zusammen an einem Tisch und versucht, den Beruf, der ihm buchstäblich auf die Stirn geschrieben steht, zu erraten. Dafür muss er Ja-Nein-Fragen stellen und darf nur dann weiter fragen, wenn die Antwort auf die vorherige Frage „Ja“ war. In der Fremdsprache, selbstverständlich.

Dieses Unterfangen erwies sich als einigermaßen schwierig. Zunächst einmal können selbst die einfachsten Ja-Nein-Fragen meist nicht eindeutig beantwortet werden: „Arbeite ich drinnen?“ – „Immer oder hauptsächlich?“; „Arbeite ich mit Menschen zusammen?“ – „Meinst du als Kunden oder als Kollegen?“; „Brauche ich für meinen Beruf eine Ausbildung?“ – „In Deutschland oder in Spanien?“ Über die meisten Berufe weiß man eigentlich kaum etwas und selbst wenn man eine genaue Vorstellung hat, heißt das nicht, dass andere sie teilen. Ich zum Beispiel wurde während des Spiels kurzerhand zum „Cerrajero“, also zum Schlüsseldienst erklärt. Mal davon abgesehen, dass ich von dieses Wort im Spanischen zuvor nie gehört hatte, waren auch die Antworten meiner Mitspieler auf einige Fragen sehr verwirrend. Zum Beispiel wurde mir geantwortet, dass ich zwar mit Werkzeugen arbeite, aber nichts produziere. Davon ausgehend, dass „Cerrajero“ aber auch „Schlosser“ bedeuten kann, kenne ich doch wenigstens einen Leser, der hier protestieren würde.

Aber keine Sorge, ich habe mich gewehrt. Meine als Verneinung formulierten Fragen nämlich brachten die Spanier ganz schön ins Schwitzen. „Arbeite ich nicht mit Tieren?“ – „Ja, äh, nein, also ja!“ Und schon durfte ich weiter fragen und hinterließ ein dickes Fragezeichen über den Köpfen der spanischen Mitspieler.

Alles in allem macht so ein Stammtisch riesigen Spaß. Der Lerneffekt ist enorm, auch wenn man das zunächst kaum bemerkt. Nicht nur neue Vokabeln werden eingeführt und trainiert, man lernt auch einiges über das Bildungssystem des anderen Landes und über alle anderen Themen, die eben zufällig zur Sprache kommen. Allen Sprachenlernern empfehle ich also dringend: Sucht euch Tandempartner, sucht euch Stammtischgruppen und seid nicht zu schüchtern auch etwas zu sagen. Wir alle wissen, wie hart es manchmal ist, sich in der Fremdsprache auszudrücken. Gelacht wird da nur gemeinsam oder doch zumindest fair verteilt.



Sonntag, 18. März 2012
"Wir vermissen dich!"
Merkwürdige Dinge gehen vor sich in der Welt der internationalen, drahtlosen Kommunikation. Oft genug habe ich betont, dass das Internet viele alltägliche Probleme vereinfachen, wenn nicht sogar lösen kann, besonders für jene, die fern der Heimat ihre Zelte – oder voll ausgestatteten Mietwohnungen – aufschlagen. Persönliche Beziehungen können so nahezu nahtlos weitergeführt werden. Soziale Netzwerke geben manchmal sogar erst den Anlass, einen alten Freund erneut anzusprechen und sich gegenseitig auf den neuesten Stand zu bringen. Trotz alledem verwundert es mich natürlich nicht, wenn mir trotzdem jemand sagt, dass das alles nicht dasselbe ist, und dass ohne die tatsächliche körperliche Präsenz schon etwas fehlt. Was mich dagegen durchaus verwundert ist, wenn ich automatisch erstellte Nachrichten erhalte, die denselben Titel tragen, wie mein heutiger Blog. Was ich damit meine? Ich beschreibe es euch an einem Beispiel.

Vor ein paar Monaten habe ich beschlossen, mein Leben in kurzen Stichpunkten für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Nicht aus einem exhibitionistischen Gefühl heraus ist dies geschehen, sondern zum einen, um meinen potenziellen Arbeitgebern ein klareres und kontrollierteres Bild von mir zu geben als es Facebook kann und damit sich meine potenziellen Leser einen Überblick über meine kreativen und wissenschaftlichen Veröffentlichungen verschaffen können. Ich suchte mir also einen kostenlosen Anbieter, mit dessen Designs ich arbeiten konnte und der das Gestalten einer Webseite nicht zu einer Programmieraufgabe machte; ich fügte einige Daten über mich ein, suchte ein paar wenige Bilder heraus und speicherte das ganze vorerst nur für mich zugänglich auf dem Server. Soweit war ich zufrieden. Wenn ich dazu Lust und Zeit hätte, könnte ich nun meine eigene Webseite kostenlos veröffentlichen. Zunächst schob ich das Projekt jedoch beiseite.

Genau eine Woche später hatte ich eine neue e-Mail im Posteingang. „Nadine, weebly misses you!“ hieß es dort. Wie aufmerksam! Wie gefühlvoll! Wie unglaublich unglaubwürdig! Es ist ja klar, dass eine solche e-Mail nur automatisch erstellt worden sein konnte. Es ist auch klar, dass den Betreibern im Prinzip völlig egal ist, was ich tue und was ich lasse und warum. Was sie wollen ist, dass ich, wenn ich schon nichts für meine Webseite bezahle, doch wenigstens Werbung für sie mache. Es ist sehr unauffällige Werbung. Nur ein kleiner Satz am unteren Rand der Seite, der andere dazu ermutigt, ihre Webseite ebenfalls mit weebly zu erstellen, bestenfalls die kostenpflichtige Version ohne Werbung und ohne „weebly“ in der Adresszeile zu wählen. Wenn ich meine Webseite nur auf deren Servern speichere und nicht veröffentliche, tue ich nichts davon und verbrauche nur Platz. Insofern verstehe ich auch, wenn weebly fälschlicherweise glaubt, es würde sie etwas angehen, dass ich meine Webseite noch nicht veröffentlicht habe.

Trotzdem ist es ein interessantes Phänomen, mit einem so gefühlvollen Ausspruch meine Aufmerksamkeit erregen zu wollen, mich mit vorgespielter Emotionalität zurück zur ‚Community’ zu ziehen, damit ich im Sinne des Unternehmens handle. Und ich würde wohl kaum den Begriff „Phänomen“ niederschreiben, wenn mir das nicht noch öfter passiert wäre. Ich frage mich, wie viele weebly-Nutzer, Groupon-Abonnenten und andere Verfolger digitaler Werbedienste sich regelmäßig sozial verpflichtet fühlen, zu ihren vormals nur halbherzigen Mitgliedschaften zurückzukehren, nur weil sie im richtigen – oder falschen – Moment mit solchen e-Mails bombardiert werden. Ich frage mich auch, wie viele Menschen die Worte „Ich vermisse dich!“ bald nicht mehr ernst nehmen werden, weil sie den alltäglichen Spam kaum noch von wahrhaft ernst gemeinten Herzensbekundungen trennen können. Erst waren es die SMS-Abkürzungen, die uns diesbezüglich abgestumpft haben. „Hdl“ und „Ild“ schreiben sich schließlich viel schneller und einfacher, als dem Gemeinten das Gemeinte tatsächlich ins Gesicht und in die Augen zu sagen. Heute ist es das alltägliche Betreffszeilen-Bombardement, dessen Inhalt für uns so verflacht wird, dass wir ihn im wahren Leben kaum noch für voll nehmen. Das gilt für Kettenmails mit Bitten um Knochenmarkspende und Social-Network-Postings mit Bildern von verhungernden Kindern meiner Meinung nach genauso, wie für die etwas schlichteren Pseudo-Gefühlsäußerungen von Mailversandprogrammen. Nicht, dass man auf solche Probleme nicht aufmerksam machen darf oder soll, aber de facto halten viele die Inhalte inzwischen schon deshalb für falsch, eben weil sie durch diese Medien zu ihnen gedrungen sind. Also: Vermissen? Gerne! Darüber schreiben? Auf jeden Fall! Aber bitte nur, wenn es wirklich so gemeint ist und nur von einem empfindsamen Individuum, das die Bedeutung dieses Gefühls auch tatsächlich versteht. Von gefühlsfähigen Maschinen und Programmen sind wir schließlich noch ziemlich weit entfernt.



Dienstag, 25. Oktober 2011
"Take this Waltz"
„Wenn du ein Mädchen rumkriegen willst, dann achte darauf, dass ein Song von Leonard Cohen im Hintergrund läuft“ – so sagte einst Niall Binns, selbst Dichter, aber auch Übersetzer so vieler Gedichte des Lyrikers und Liedermachers Leonard Cohen. Und wem dieser Name jetzt nichts sagt, der sei beruhigt. Auch mir war er nicht gleich im Kopf, weder der des schottischen Dichters, noch der des ehrwürdig ergrauten Kanadiers. Es würde mich allerdings wundern, wenn man noch nichts von seinen Liedern gehört hätte. Von „Suzanne“, „Take this Walz“, „I’m your man“ vielleicht? Oder doch wenigstens vom Titelsong des Animationsfilms „Shrek“ – „Halleluja“.

So kam ich denn gänzlich unvorbereitet zu einer Lesung der Gedichte Leonard Cohens, durchgeführt von eben jenem Übersetzer Niall Binns und dem asturianischen Dichter Fernando Beltrán. „Traveling blind – Viajar a ciegas“ hieß die Veranstaltung, in Anlehnung an eine Zeile aus dem Text von „Suzanne“. Ich hielt es lediglich für ein Gedicht, wenn auch ein sehr gutes, aber die Wahrheit ist wohl, dass es durch seine Vertonung noch heute erheblich mehr verbreitet ist, als die meisten der poetischen Dichtungen, die täglich auf der Welt geschrieben werden und dereinst wurden. Auch den beiden Rezitatoren glückte es, guten Rhythmus in die Veranstaltung zu bringen. Sie hielten den Takt, sie spielten mit den Worten und den Sprachen, ließen englisch und spanisch im Wechsel erklingen oder ineinander verschränkt und mir scheint, dass der Whiskey auf ihrem Tisch wohl sein weiteres dazu beigetragen hat, die dichterischen Talente völlig zu entfesseln und diese Veranstaltung zu einem vollen Erfolg zu machen.



"Traveling blind"


Zwischen Gedichten klatscht man nicht. Wer weiß schon, wann es vorbei ist und wann die letzte Zeile verklungen. Aber ein donnernder Applaus des gefüllten Saals am Ende tut der Seele des Künstlers gut. Und wäre man nicht in gespannter Erwartung gewesen ob der Ankunft des kanadischen Dichters, hätte es wohl auch mehr als nur eine Zugabe gegeben.

So aber strömten alle Zuschauer aus dem Saal und postierten sich um die roten Banden der zu eröffnenden Ausstellung herum. Zu sehen sind nur einige Zeichnungen – mehr oder weniger gelungene Skizzen von Menschen und Momenten. Und sie kommen wohl nicht der Vollendung seines poetischen Werkes gleich, aber sie stammen aus der gleichen Feder, aus der Leonard Cohens – und erfreuen sich schon allein daher hoher Wertschätzung.

Und dann stieg er selbst aus dem Auto, den Hut, wie immer auf dem Kopf, jedoch beim Eintreten in den Saal nahm er ihn kurz ab, um zu grüßen. Fasziniert betrachtete er seine eigenen Bilder, als stammten sie von Fremden und nickte freundlich dem Publikum zu.



Die Studenten sammeln sich




Leonard Cohen steigt aus dem Auto...




... und grüßt auf die alte, charmante Art.


Es bleibt zu vermuten, dass er nur für diese Ausstellung im kleinen Foyer der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität von Oviedo nicht extra nach Asturien gekommen wäre. Doch es fügte sich, dass er am Freitag, den 21. Oktober die Auszeichnung für Geisteswissenschaften und Literatur des asturianischen Thronfolgerpaares, den „Premios Príncipe de Asturias“, erhalten sollte und daher vermutlich bereits einige Nächte vorher im „Hotel de la Reconquista“ angekommen war. Um dem spanischen Prinzen die Hand zu schütteln, würde sich vermutlich jeder in ein Flugzeug setzen, und wenn der Flug noch so lange dauert.



Samstag, 17. September 2011
Dunkles zu sagen...
Möglicherweise ist einigen von euch nicht entgangen, dass dieser obige Titel nicht entgangen, dass dieser obige Titel nicht allein aus meiner Feder stammt. Die österreichische Schriftstellerin Ingeborg Bachmann veröffentlichte 1953 in ihrem Band: „Die gestundete Zeit“ ein Gedicht mit eben diesem Namen. Dieses ist auch eines der wenigen Gedichte, von denen ich eine spanische Übersetzung frei im Netz verfügbar finden konnte. Offensichtlich hatte es einen starken Einfluss auf die Leser. Und auch in Deutschland gilt Ingeborg Bachmann als eine der wichtigsten Lyrikerinnen deutschsprachiger Literatur.

Die Grundstimmung dieses Gedichts ist sehr negativ, was ich nicht textlich belegen muss, weil schon der Titel dies impliziert. Es ist auch nichts anderes zu erwarten, geht man von der Zeit aus, in der die Autorin lebte und dem engen Verhältnis, das sie auch mit dem Lyriker Paul Celan verband, dessen Lebensgeschichte zwischen Deportation, Arbeitslagern und Poesie ihr werk stark geprägt haben. Dieses Gedicht ist auch eines von jenen, die ich für die Ausstellung über Deutsche Lyrik hier in der ‚Biblioteca de Grado’ in Betracht gezogen habe. Es reiht sich ein in eine Folge von Gedichten, deren Grundton farblich zwischen sanften Grau und tiefem Schwarz liegen.

Während meiner Recherchen ist mir aufgefallen, dass zumindest seit der Zeit des Sturm und Drangs und der Klassik in Deutschland scheinbar kein fröhliches Gedicht mehr geschrieben wurde. Natürlich ist das ein verfälschter Eindruck. Mir ist durchaus bewusst, dass die Regale deutscher Büchereien und Bibliotheken voll stehen mit Liebeslyrik, Naturpreisungen und einfachen Danksagungen an das Leben. Allerdings: Die spanischen Übersetzungen, die man im Internet finden kann, zeigen nur einen Bruchteil der Dichtung und gerade die des zwanzigsten und auch des einundzwanzigsten Jahrhunderts sprüht nicht gerade vor Lebensfreude.

Die Beispiele, die mir da vor Augen gekommen sind, stammen nicht nur aus der Zeit der Verstädterung, der Weltkriege und der Nachkriegszeit, auch moderne Vertreter deutscher Lyrik wie Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger und Durs Gründbein habe ich hier in Original und Übersetzung schön gebunden, durchwühlt, ohne auch nur eine Lobpreisung des Lebens, ein verträumtes Liebeslied oder schlichtweg, etwas nicht gesellschaftskritisches zu finden.

Ich sehe verschiedene Gründe für solcherart Tendenzen. Zum einen glaube ich wirklich, dass Dichter dieser Zeit gerne zu Kritiken neigen. Zum anderen wird natürlich nicht das gesamte poetische Schrifttum moderner Zeit gleich aus dem deutschen ins Spanische übertragen. Zuallerletzt aber, und das halte ich für eine markante Entwicklung, wird das Fähnchen „wertvolle Literatur“ von uns Deutschen doch prinzipiell nur an Werke und Autoren vergeben, die einen Inhalt in sich tragen, der uns aufrütteln soll. Einen Inhalt, der uns unseren teils absurden Alltag vor Augen führen soll oder die Leidenschicksale oder Fehler unserer Ahnen.

Da mag die Spiegel-Bestseller-Liste ja gerne sagen, was sie will: Ein Buch wie „Feuchtgebiete“ wird niemals in Marcel Reich-Ranickis Kanon landen. Und ich bezweifle auch, dass es in fünfzig Jahren noch in irgendeiner Literaturgeschichte auftauchen wird. Das halte ich nicht unbedingt für tragisch. Ich frage mich aber schon, warum jene Titel, die ich in solchen Literaturgeschichten lesen kann, oder die Titel, über die wir während des Literaturstudiums gesprochen haben, immer irgendetwas mit Tod, mit Verderben, mit der Verrohung der Menschheit und mit gesellschaftlichen Missständen zu tun haben. Selbst Wikipedia scheint in dem Artikel „Deutsche Literatur“ nur zeitgenössische Autoren zu nennen, deren Werke wohl als schwer und ernst zu bezeichnen wären, durchaus auch als „gut“, aber nicht zwingend als „schön“.
Hat nicht mal jemand gesagt, dass der Betrachter schöner Kunst sein Wesen selbst zum Guten wandelt? Wäre es dann nicht durchaus erstrebenswert, Literatur mit positiven Gedanken zu füllen und den Leser damit ein bisschen glücklicher zu machen? Oder anders: Sollte man nicht dann eben solche Bücher mindestens ebenso sehr schätzen und achten, wie die kritischen Werke?

Immerhin bin ich persönlich der Meinung, dass Literatur den Gefühlszustand der Leser ganz erheblich beeinflussen kann. Natürlich wird der Leser kritischer Literatur in die Welt hinausgehen, sein Auge öffnen und die Welt zu verändern versuchen, wo er nur kann. Allerdings wird ein glücklicher Leser in die Welt hinausgehen, sein Glück mit anderen Menschen teilen und das Zusammenleben auf diese Weise zumindest partiell verändern und verbessern. Wäre ein offenes Herz nicht ebenso erstrebenswert wie ein kritischer Kopf? Und sollten wir dann nicht auch Werke, die solches bewirken können, mit in unseren Kanon aufnehmen?
Also ich bin auf jeden Fall dafür, dass wir nicht mehr schüchtern den Kopf senken, wenn uns bei der Frage, was wir gerade lesen würden, wieder nur der Titel eines Liebesromans einfällt. Oder der eines humoristischen Kurzgeschichtenbandes. Oder sogar der eines Kinderbuches. Es muss uns nicht peinlich sein, nicht in jedem Augenblick unseres Lebens die Schwere und Ernsthaftigkeit um uns zu scharen, sonder auch einfach mal mit einem freudigen Seufzen ein Buch weglegen zu wollen. Und genau deshalb werde ich auch jetzt beherzt wieder zu meiner Lektüre der „Hühnersuppen für die Seele“ greifen. So!