Dienstag, 20. September 2011
Mein erstes Trinkgeld...
Es hat doch auch etwas für sich, wenn man allein in der Bibliothek arbeitet. Plötzlich lerne ich auch alle unsere Nutzer kennen, denn viele von ihnen sind sehr gesprächig. Und immer wieder bin ich überraschend, wie viele Menschen aus der ganzen Welt zu uns kommen. Gestern war es eine Frau, die ursprünglich aus Litauen stammt, heute älterer Herr der eigentlich auf Urlaub ist und dennoch für seine Arbeit einige Dokumente ausdrucken musste. Als er mich nach einigen Erklärungsversuchen fragte, ob ich auch Englisch spreche, wollte ich schon beleidigt sein, dass er mein Spanisch für so unzureichend hält. Es stellte sich aber heraus, dass er eher an seinen eigenen Fähigkeiten diesbezüglich zweifelte, denn er kommt aus US-Amerika und fühlt sich mit Englisch sehr viel wohler. Einige Gesprächsminuten, Computerprobleme und gedruckte Seiten später war er so dankbar ob der geringen Druckkosten (5 Ct. Pro Seite), dass er mir sogar noch einen Fünfer in die Hand drückte. Von so einem Trinkgeld können spanische Kellnerinnen dagegen oft nur träumen, denn hier ist man damit etwas knauserig.

Trotzdem wäre es mir natürlich lieb, wenn wir für meine Kollegin bald einen geeigneten Ersatz finden könnten. Immerhin habe ich mit dem Año Aleman derzeit mehr als genug zu tun. Morgen ist bereits die Eröffnung, bei der auch die Presse da sein wird und ich eine kurze Zusammenfassung unseres Programms geben soll, und in vier Wochen soll die erste Ausstellung stehen. Noch dazu kann ich die Arbeit auch nicht einfach auf den Nachmittag verschieben. Denn das würde heißen, die zahlreichen Festivitäten, die diese Woche in Oviedo stattfinden, zu verpassen. Hier feiert man nämlich mehr als eine Woche lang San Mateo – das Fest des Heiligen Matthäus. Und dafür haben sich die Veranstalter einiges einfallen lassen.


Bereits am Samstag waren wir auf dem Festplatz, wo man nicht nur die landestypischen Speisen und Getränke genießen und sich mit Freunden treffen, sondern auch ein wenig tanzen kann, sofern man denn das richtige Zelt findet und es einem nicht peinlich ist. Man beachte auch: Bei diesem Fest lässt sich alles sehen, was in Oviedo und Umgebung ansässig ist, und zwar nicht nur irgendwie, sondern in Chic. Aber mindestens Chic. Wenn mir auch die Röcke manchmal etwas zu kurz erscheinen.

Dagegen, wenn man zu einem bezahlten Konzert geht, reiht man sich am besten mit Jeans und T-Shirt ein. Etwa bei MANA, die wir am Sonntag besucht haben. Ich habe immer noch das Gefühl, einen Hörschaden davongetragen zu haben, nicht etwa, weil die Musik zu laut gewesen wäre, sondern weil das Konzert 30 Minuten später anfing als angesagt. Es ist ja nicht so, dass Spanier als Verkörperung der Pünktlichkeit gelten würden. Wer 15 Minuten zu spät zu einer Verabredung kommt, ist hier ja meist immer noch als erster da. Aber wenn eine Mexikanische Popgruppe dann mal technische Probleme hat, gibt es kein Erbarmen. zumindest bin ich der festen Überzeugung, dass es technische Probleme gab, Víctor schob die Verspätung dagegen vehement auf die künstlerische Einfalt der Gruppe. Alle anderen Anwesenden, waren wohl seiner Meinung, denn nun wurde gepfiffen, was das Zeug hielt und der hochfrequente Ton stocherte mit Vorliebe schmerzhaft in meinem Gehör herum. Als dann aber das Konzert angefangen hatte, war alles wieder gut. MANA kann sich wohl mit Fug und Recht als künstlerisch Wertvoll bezeichnen. Eine gelungene Mischung aus tiefgehenden Balladen und gut gelaunter Popmusik – und natürlich auch nicht zu vergessen: Die Gesellschaftskritik (mit Augenzwinkern zu meinem letzten Beitrag).

Einen anderen Ton schlug dagegen Carlos Baute gestern Abend kostenlos (!!!) auf der Plaza de la Catedral an. Er stammt aus Südamerika und wird hier in Spanien vor allem von der Damenwelt angehimmelt. Seine lateinamerikanischen Rhythmen unterstreicht er sehr gerne mit entsprechenden Hüftbewegungen, die ein paar der Leser vielleicht auch vom Bauchtanz kennen beziehungsweise von der Schwangerschaftsgymnastik.

Auch wenn das Publikum den Beginn des Konzerts hier recht geduldig abgewartete und nur ab und zu scherzhaft gemeinte „Charlie Charlie“-Rufe laut wurden, musste ich mir ab und zu die Ohren zuhalten. Ganz besonders, als er eine junge Dame zu sich auf die Bühne bat, um sie zu umarmen, mit ihr zu tanzen und ihr ein Ständchen zu singen. Die Worte „te deseo“ scheinen mir zwar in Anbetracht dieses höchstens 17-Jährigen Mädchens von einem Middreißiger sehr gewagt, aber Kunst ist Kunst, und da will ich nichts weiter dagegen sagen. Allerdings, wenn die ganzen eifersüchtigen Damen direkt neben mir, die uns vorher schon mit beängstigend nahekommenden glimmenden Zigaretten bedrohten und jede ihrer Gefühlsregungen zeitgleich in Facebook posteten, die Auserwählte nun in schändlichsten Worten beschimpfen müssen, dann halte ich das doch für etwas übertrieben. Viele wissen ja, dass im Spanischen personenbezogene Schimpfwörter öfter vorkommen als bei uns. Aber dieses kleine, völlig be- und entgeisterte Mädchen als „Hija de Puta“ zu bezeichnen, weil sie im richtigen Moment am richtigen Ort war, ist nicht in Ordnung. Und schon gar nicht, wenn dies mit etwa 190 Dezibel und dazu noch hochfrequent direkt neben meinen Ohren geschieht!

Da war es doch am selbigen Nachmittag noch sehr viel leiser, als Oviedo den Auszug vieler seiner Bürger nach Amerika vor vielen vielen Jahren feierte. Der Umzug auf der Calle Uria war ein bunter Mix aus traditioneller Asturianischer Musik und Latino- sowie US-Amerikanischer Symbolik. Etwas irritiert war ich allerdings von einigen Dingen, deren Zusammenhang mit diesem Spanisch-Amerikanischen Volksfest ich nicht ganz verstehen konnte. Aber seht selbst:


Desfilo (Umzug):

Ein Cadillac, eine riesige Ananas, ein Fisch und vieles mehr. Und was bitte hat Mickey Mouse hier zu suchen???


















Und Carlos Baute...

der Mann, der alle Frauenherzen höher schlagen lässt (?)


und das Mädchen, dass in diesem Moment von allen anwesenden weiblichen Fans gehasst wird.



Samstag, 17. September 2011
Dunkles zu sagen...
Möglicherweise ist einigen von euch nicht entgangen, dass dieser obige Titel nicht entgangen, dass dieser obige Titel nicht allein aus meiner Feder stammt. Die österreichische Schriftstellerin Ingeborg Bachmann veröffentlichte 1953 in ihrem Band: „Die gestundete Zeit“ ein Gedicht mit eben diesem Namen. Dieses ist auch eines der wenigen Gedichte, von denen ich eine spanische Übersetzung frei im Netz verfügbar finden konnte. Offensichtlich hatte es einen starken Einfluss auf die Leser. Und auch in Deutschland gilt Ingeborg Bachmann als eine der wichtigsten Lyrikerinnen deutschsprachiger Literatur.

Die Grundstimmung dieses Gedichts ist sehr negativ, was ich nicht textlich belegen muss, weil schon der Titel dies impliziert. Es ist auch nichts anderes zu erwarten, geht man von der Zeit aus, in der die Autorin lebte und dem engen Verhältnis, das sie auch mit dem Lyriker Paul Celan verband, dessen Lebensgeschichte zwischen Deportation, Arbeitslagern und Poesie ihr werk stark geprägt haben. Dieses Gedicht ist auch eines von jenen, die ich für die Ausstellung über Deutsche Lyrik hier in der ‚Biblioteca de Grado’ in Betracht gezogen habe. Es reiht sich ein in eine Folge von Gedichten, deren Grundton farblich zwischen sanften Grau und tiefem Schwarz liegen.

Während meiner Recherchen ist mir aufgefallen, dass zumindest seit der Zeit des Sturm und Drangs und der Klassik in Deutschland scheinbar kein fröhliches Gedicht mehr geschrieben wurde. Natürlich ist das ein verfälschter Eindruck. Mir ist durchaus bewusst, dass die Regale deutscher Büchereien und Bibliotheken voll stehen mit Liebeslyrik, Naturpreisungen und einfachen Danksagungen an das Leben. Allerdings: Die spanischen Übersetzungen, die man im Internet finden kann, zeigen nur einen Bruchteil der Dichtung und gerade die des zwanzigsten und auch des einundzwanzigsten Jahrhunderts sprüht nicht gerade vor Lebensfreude.

Die Beispiele, die mir da vor Augen gekommen sind, stammen nicht nur aus der Zeit der Verstädterung, der Weltkriege und der Nachkriegszeit, auch moderne Vertreter deutscher Lyrik wie Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger und Durs Gründbein habe ich hier in Original und Übersetzung schön gebunden, durchwühlt, ohne auch nur eine Lobpreisung des Lebens, ein verträumtes Liebeslied oder schlichtweg, etwas nicht gesellschaftskritisches zu finden.

Ich sehe verschiedene Gründe für solcherart Tendenzen. Zum einen glaube ich wirklich, dass Dichter dieser Zeit gerne zu Kritiken neigen. Zum anderen wird natürlich nicht das gesamte poetische Schrifttum moderner Zeit gleich aus dem deutschen ins Spanische übertragen. Zuallerletzt aber, und das halte ich für eine markante Entwicklung, wird das Fähnchen „wertvolle Literatur“ von uns Deutschen doch prinzipiell nur an Werke und Autoren vergeben, die einen Inhalt in sich tragen, der uns aufrütteln soll. Einen Inhalt, der uns unseren teils absurden Alltag vor Augen führen soll oder die Leidenschicksale oder Fehler unserer Ahnen.

Da mag die Spiegel-Bestseller-Liste ja gerne sagen, was sie will: Ein Buch wie „Feuchtgebiete“ wird niemals in Marcel Reich-Ranickis Kanon landen. Und ich bezweifle auch, dass es in fünfzig Jahren noch in irgendeiner Literaturgeschichte auftauchen wird. Das halte ich nicht unbedingt für tragisch. Ich frage mich aber schon, warum jene Titel, die ich in solchen Literaturgeschichten lesen kann, oder die Titel, über die wir während des Literaturstudiums gesprochen haben, immer irgendetwas mit Tod, mit Verderben, mit der Verrohung der Menschheit und mit gesellschaftlichen Missständen zu tun haben. Selbst Wikipedia scheint in dem Artikel „Deutsche Literatur“ nur zeitgenössische Autoren zu nennen, deren Werke wohl als schwer und ernst zu bezeichnen wären, durchaus auch als „gut“, aber nicht zwingend als „schön“.
Hat nicht mal jemand gesagt, dass der Betrachter schöner Kunst sein Wesen selbst zum Guten wandelt? Wäre es dann nicht durchaus erstrebenswert, Literatur mit positiven Gedanken zu füllen und den Leser damit ein bisschen glücklicher zu machen? Oder anders: Sollte man nicht dann eben solche Bücher mindestens ebenso sehr schätzen und achten, wie die kritischen Werke?

Immerhin bin ich persönlich der Meinung, dass Literatur den Gefühlszustand der Leser ganz erheblich beeinflussen kann. Natürlich wird der Leser kritischer Literatur in die Welt hinausgehen, sein Auge öffnen und die Welt zu verändern versuchen, wo er nur kann. Allerdings wird ein glücklicher Leser in die Welt hinausgehen, sein Glück mit anderen Menschen teilen und das Zusammenleben auf diese Weise zumindest partiell verändern und verbessern. Wäre ein offenes Herz nicht ebenso erstrebenswert wie ein kritischer Kopf? Und sollten wir dann nicht auch Werke, die solches bewirken können, mit in unseren Kanon aufnehmen?
Also ich bin auf jeden Fall dafür, dass wir nicht mehr schüchtern den Kopf senken, wenn uns bei der Frage, was wir gerade lesen würden, wieder nur der Titel eines Liebesromans einfällt. Oder der eines humoristischen Kurzgeschichtenbandes. Oder sogar der eines Kinderbuches. Es muss uns nicht peinlich sein, nicht in jedem Augenblick unseres Lebens die Schwere und Ernsthaftigkeit um uns zu scharen, sonder auch einfach mal mit einem freudigen Seufzen ein Buch weglegen zu wollen. Und genau deshalb werde ich auch jetzt beherzt wieder zu meiner Lektüre der „Hühnersuppen für die Seele“ greifen. So!