Nimm den Druck raus
Profesionalität ist ein großes Wort. Wir erwarten sie von allen, am meisten aber von uns selbst. Wie oft stellen wir die Arbeit vor unser Privatleben, weil es eben so sein muss? Aber muss es das denn? Als mir meine kleine Tochter das erste Mal in meine Homeoffice-Lehre dazwischenfunkte, gefiel mir das überhaupt nicht. Ich möchte schließlich qualitativen Unterricht geben, sofern das online überhaupt möglich ist, und da passte mir so ein lautes, für alle Schüler deutlich hörbares, "Bist du fertig, Mama?" nicht ins Bild. Aber warum eigentlich nicht? Für die Schüler war es ein Grund zum Schmunzeln, eine kleine Auflockerung und sicherlich nicht besonders störend - meine Nachbarn mit ihrem Hämmern und Bohren belasten da schon mehr.
In der Erziehung geht es mir oft ganz genauso. Die Dinge werden gemacht, wie sie gemacht werden müssen. Und wie genau sieht das aus? Darauf hat jeder seine eigenen Antworten und keine stimmt miteinander überein. Muss man eigentlich immer um 8 Uhr aufstehen? Im Moment gibt es dazu keinen triftigen Grund, ausser vielleicht, dass die Mittagsschlafzeit sich sonst zu weit nach hinten verschiebt. Aber was spricht denn dagegen, dem herzzerreißenden "Ich möchte noch ein bisschen kuscheln!" nachzugeben? Oder einem "Ich möchte jetzt den Boden wischen!". Klar habe ich in diesem Moment dann erstmal etwas mehr Arbeit, die Pfützen im Bad wieder wegzukriegen, aber wer weiB, vielleicht entwickelt sich dieses Verhalten ja so weiter, dass ich in zwei oder drei Jahren eine richtige kleine Haushaltshilfe habe. Summa summarum glaube ich wirklich, dass es sich lohnt, scheinbar klare, allgemeingültige Normen einfach mal zu hinterfragen. Ich wenn ich auf das traurige "Warum?" meiner Tochter keine ehrliche und sinnvolle Antwort geben kann, dann hatte die Regel vielleicht doch nicht so viel Bestand. Und dann nehme ich den Druck raus, gebe nach und stelle fest, dass die Welt trotzdem nicht untergeht.
nadinemes am 03. Juli 20
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Kuriositäten
Eines der prägendendsten Bilder, die ich in den letzten Wochen gesehen habe, hätte ich sehr sehr gerne auch fotografisch festgehalten, aber ich bezweifle, dass mein Motiv damit einverstanden gewesen wäre. Es handelte sich um eine ältere Frau, schön gekleidet und geschminkt, gepflegt und elegant - die am Fenster ein bisschen Frühlingssonne genießen wollte, allerdings hinter Gittern. Ich habe sie auf einem kleinen Umweg zum Fischladen entdeckt, den ich machte, um etwas mehr Bewegung zu bekommen und auch meiner Tochter etwas mehr Bewegung zu verschaffen. Natürlich bin ich dabei nicht an einer Haftanstalt vorbeigekommen, vielmehr ist es hierzulande üblich, dass die untersten Fenster eines Gebäudes mit fingerdicken, aber schön geformten Eisenstangen geschützt werden, damit mögliche Einbrecher es nciht so leicht haben. Und so saß sie also, die Dame, ihr Gesicht vom Schatten der Gitter gemustert in der Sonne, mit halb geschlossenen Augen und das kleine bisschen Freiheit nutzend. Nun darf sie auch wieder spazieren gehen, aber etwas sagt mir, dass die trotzdem noch ab und zu so aus dem Fenster sehen wird.
Andere Kuriositäten sieht man natürlich auch durch den online-Unterricht, der plötzlich die privaten Wohnräume zu Lehrräumen macht. Da schaut man in Wohnzimmer, Schlafzimmer und Küchen, je nachdem, wo der jeweilige Schüler das beste Internet hat. Endlich habe ich jetzt eine Vorstellung von der Drachendeko an der lila Wand, von der mir eine Fortgeschrittene so begeistert erzählt hat. Und einmal pro Woche frage ich mich auch, warum mein zwölfjähriger A1-Schüler immer einen Koffer auf seinem schön gemachten Bett zu liegen hat, als wolle er in der nächsten Minute zu einer Reise aufbrechen - nicht, dass er dürfte. Auch kurze Besuche der Familienmitglieder regen sowohl mich als auch die Mitschüler immer wieder zum Schmunzeln an: Kann man nicht auch noch nach der Deutschstunde fragen, ob der Junge einen Kakao trinken möchte? Und könnte man nicht auch noch einen Moment warten mit dem Sandwich, dass man sich in der Küche schmieren will, in der die Schülerin gerade sitzt? Mein bisheriges Highlight war natürlich der Universitätsstudent, der im hinteren Bereich des Zimmers sein Handy an die Steckdose steckt und dabei nicht bedenkt, dass man ihn in T-Shirt und Unterhose in ganzer Pracht sehen kann, wenn der Schreibtisch seine Beine nicht mehr verdeckt. Zum Glück weiß ich inzwischen, wie man Video und Audio der Sitzungsteilnehmer ausschalten kann, wenn es allzu privat wird. Manchmal behalte ich mir allerdings vor, dieses Wissen eben nicht zu nutzen - Ein bisschen Spaß muss sein!
nadinemes am 03. Mai 20
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